New York City, zwei Tage vor Ostern. Kalter Schneeregen peitscht durch die Strassen. Kein besonders freundlicher Empfang, denke ich, während sich das Taxi dem Ziel nähert. Es sollte schlimmer kommen.
Im warmen Wohnzimmer meiner Freunde gibt’s Kaffee, Tee und Kuchen. Seit ihrem Wegzug aus der Schweiz haben wir uns viel zu erzählen. Ein paar Stunden später will kurz die Mails prüfen, doch das Mobile fehlt. In der gewohnten Tasche ebenso wie an allen anderen möglichen Orten. Ich werde langsam nervös.
Anrufversuche meiner Freunde auf mein Gerät scheitern. Voicemail. Ich überlege, das Telefon vorsorglich zu sperren, warte aber noch ab. Eine USA Reise ohne Smartphone? Möglich, aber ungünstig. Vor allem, weil der Laptop bewusst im Büro blieb. Mit einem simplen Plan B für Tickets, Reservierungen etc. wird wohl nichts. Die Chance, ein verlorenes Mobile in NYC wieder zu finden, ist praktisch gleich null.
Eine Stunde später klingelt das Telefon meines Freundes. Anrufer unbekannt. «Yo man! I have your cell phone. I found it on the street!”
Anscheinend fiel das Telefon aus meiner Tasche, als ich das Taxi im strömenden Regen hastig verlassen habe. Er sei mit dem Auto unterwegs gewesen und habe etwas am Strassenrand gesehen, hielt an und packte das Gerät ein, schildert der Anrufer. «You can get it back whenever you want. I am home now. Meet me in the Bronx!.”
In der Zwischenzeit war es draussen dunkel geworden. Die Adresse liegt in einem Quartier der Bronx. Gefährlich? Zumindest kein Ort, wohin sich Touristen verirren. Wir sind skeptisch, vorsichtig und zugegeben voller Vorurteile. Der Anrufer bietet uns an, das Gerät am nächsten Tag ab 9:00 Uhr in dem Shop abzuholen, in welchem er arbeite. Zwei Blocks von unserer Wohnung entfernt. Wir entscheiden uns für diese Variante.
9.05 Uhr am folgenden Vormittag. Ein sympathischer junger Mann übergibt mir mit einem breiten Lachen mein Mobile. Ich bin dankbar und beschämt zu gleich. Der ehrliche Finder will partout keine Entschädigung und reagiert beinahe beleidigt, als ich ihm 50 Dollar in die Hand drücken will. Hilfsbereitschaft sei für ihn eine Selbstverständlichkeit und bedarf keiner Entlöhnung. Wow, eine beeindruckende Haltung.
Ich schäme ich mich über meine Vorurteile und mein klischeehaftes Denken. Vielleicht begegnete ich genau deshalb einem von Grund auf ehrlichem und feinem Menschen aus der Bronx, der mir den Spiegel vorgehalten hat. Dafür bin ich ihm dankbar; mindestens so sehr, wie für das Mobiltelefon.
Ein fröhlicher Gruss
Ralph Hubacher
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