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22.05.2025

Verbiegen oder brechen?

Julia wollte es schaffen. Bis ganz nach oben. Doch um jeden Preis? Sie wusste nicht, dass eine grosse Prüfung bevorstand.

Es lief gut für Julia. Seit fast fünf Jahren leitete sie eine umsatzstarke Sparte des Unternehmens und war Mitglied der Geschäftsleitung. Sie mochte ihren herausfordernden, abwechslungsreichen Job ebenso wie ihre Kollegen. Besonders Peter, der Firmengründer und CEO, war für sie Mentor und Vorgesetzter zugleich. Er traute ihr komplexe Aufgaben zu, schenkte  Vertrauen und unterstützte sie – ohne weniger fordernd zu sein als gegenüber den anderen Führungskräften.

Als Peter verkündete, den CEO-Posten abgeben zu wollen, war sie erstaunt, in der engen Wahl für seine Nachfolge zu stehen. Einige Kollegen waren länger im Unternehmen, hatten Rollen wie CFO oder COO – Positionen, die prädestinierter für die Nachfolge erschienen.

Halbe Sachen noch unüberlegtes Handeln waren nicht Julia’s Ding. Sie dachte nach, sprach mit ihrer Familie, mit engen Freunden und entschied sich, in den Assessment-Prozess einzusteigen. Sie wollte es schaffen.

Peter spielte mit offenen Karten. Er lud alle drei internen Kandidaten zu Beginn in sein Büro ein, erklärte den Ablauf des Assessments, die Spielregeln, die Erwartungen für die kommenden Monate – und liess viel Raum für offene Fragen. Am Ende des Gesprächs überreichte er jedem einen Samen eines Apfelbaums und einen Topf mit Erde. Die Aufgabe; jeder Kandidat pflanzt ein Bäumchen und präsentiert in einem halben Jahr das Ergebnis. Obwohl die Kandidaten die kreativen Ansätze von Peter gewohnt waren, löste diese Aufgabe Stirnrunzeln aus.

Nach vier Wochen war in Julias Topf noch immer nichts zu sehen.
„Bisher war ich bei der Gartenarbeit eigentlich ganz ok,“ dachte sie sich. Doch so sehr sie sich um den Samen kümmerte – es wuchs nichts.
Ihr war bewusst, dass die Aufgabe mehr Bedeutung hatte, als auf den ersten Blick zu erkennen war. „Peter weiss genau, was er tut,“ sagte sie sich immer wieder.

Sie rang mit sich, ins Gartencenter zu fahren und einen kleinen Setzling zu kaufen, um mit ihren beiden Kollegen mithalten zu können. Obwohl sie wochenlang hin- und hergerissen war, gab sie dem Drang nicht nach.

Sechs Monate später standen drei Töpfe im Sitzungszimmer: zwei mit kleinen, aber kräftigen Bäumchen. In Julias Topf sah es trostlos aus. Nichts als dunkle Erde. Ihre beiden Mitstreiter warfen ihr mitleidige Blicke zu. Julia schämte sich und wäre am liebsten im Boden versunken.

Als Peter den Raum betrat und das Meeting eröffnete, lobte er die Arbeit der Kollegen: «Sich kümmern, hingeben und wachsen lassen – das ist die wichtigste Aufgabe eines CEO. Ihr könnt stolz darauf sein, was aus euren Samen geworden ist.»

Er liess seinen Blick über alle drei Kandidaten schweifen. Julia lief rot an.

Dann fuhr Peter fort: «Ebenso wichtig ist es, standfest zu bleiben, sich selbst treu zu bleiben, weder zu verbiegen noch zu brechen. Ich habe alle Samen so behandeln lassen, dass sie nicht keimen konnten. Es war unmöglich, dass daraus ein Bäumchen wachsen konnte.»

Er liess eine Pause entstehen.

«Es scheint, dass nicht alle ehrlich zu sich selbst waren.»

Julia spürte, wie die Scham wich. Sie hatte den schwierigsten Test bestanden – den Test gegen sich selbst.

Ein fröhlicher Gruss, Ralph Hubacher

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