Schnell, manchmal zu schnell, werden Menschen in Schubladen gesteckt. Deshalb erzähle ich Ihnen heute die Geschichte von Kanonier Siegrist.
Voller Tatendrang, durchtrainiert und mit einem gesunden Selbstvertrauen ausgestattet stand ich nach der Unteroffizierschule zum ersten Mal vor meiner Gruppe Rekruten. Ich lernte, einen im wahrsten Sinn bunten Haufen, quer durch alle Gesellschaftsschichten, mit deutlichen unterschiedlich ausgeprägten Stufen der Motivation, kennen. Einer stach mir sofort ins Auge: Kanonier Siegrist.
Siegrist war weder besonders gross noch klein, dick oder dünn, hell noch dunkel. Der Unterschied lag in seiner Grundgeschwindigkeit. Vielleicht haben Sie mal ein Faultier gesehen? Kanonier Siegrist erinnerte mich stark an diese Wesen, obwohl er keinesfalls ein fauler Mensch war, sich aber ähnlich zeitlupenfaft bewegte. Wenn er sprach, hörte sich das wie einen mit 0.5-facher Geschwindigkeit abspielten Podcast an. Wer jetzt denkt, dass Kanonier Siegrist’s Langsamkeit etwas mit seiner Intelligenz zu tun hatte, täuscht sich. Er studierte Maschinenbau an einer renommierten technischen Hochschule.
Fakt war, dass Kanonier Siegrist nicht nur regelmässig meine Geduld, sondern auch die seiner Kollegen strapazierte. Mit ihm dauerte alles länger, selbst einfache Sachen wie den Rucksack für den Marsch packen oder die Schuhe binden, beanspruchten überdurchschnittlich viel Zeit. Schnell landete Siegrist in einer Schublade. Selbstredend nicht in einer obersten, bei den Leistungsträgern. Meine Meinung war gemacht. Die Meinung seiner Kollegen war gemacht. Glasklar, eindeutig und unumstösslich. Bis sich unerwartet alles änderte.
Auf dem Wochenbefehl stand eine Sporteinheit, die ich selbst gestalten durfte. Nach vielen Dauerläufen und Trainings auf der Kampfbahn gönnte ich den Jungs eine Runde Fussball. Wie früher in der Schule liess ich die Mannschaften selbst zusammenstellen. Als letzter blieb, welch eine Überraschung, Kanonier Siegrist übrig. «Die Schnecke könnt ihr haben», meinte der Captain des ersten Teams. Die harten Worte schmerzten mich und Siegrist tat mir leid. Er war ein grundanständiger, lieber Kerl, halt einfach seeehr laaangsaaam.
Kaum pfiff ich das Spiel an, legte Siegrist los, als gäbe es kein Morgen mehr. Er dribbelte die Kameraden mit einer Geschwindigkeit aus, die selbst Mbappé zum staunen gebracht hätte. Noch verblüffender, er war überall gleichzeitig auf dem Platz anzutreffen, verteidigte aktiv, verteilte die Bälle im Mittelfeld und schoss selbst etliche Tore. Wir alle, ohne Ausnahme, staunten und rieben uns die Augen. Das vermeintliche ‘Faultier’ entpuppte sich als ‘Fussball-Blitz’.
Kaum war das Spiel vorbei, fiel Sigerist in seine alten Muster zurück. Doch nicht nur ich wusste spätestens ab dem Zeitpunkt, dass er versteckte Talente hatte. Ich machte mich daran, gezielt seine Stärken zu stärken und die Aufgaben mit Unterstützung der ganzen Gruppe so masszuschneidern, der nicht nur Siegrist, sondern wir alle ein höheres Leistungsniveau erreichten. Das scheinbar unbedeutende Fussballspiel hat mir die Augen geöffnet. Eine Lektion fürs Leben. Oder wie heisst es so schön; ‘never judge a book by its cover’.
Ein fröhlicher Gruss, Ralph Hubacher