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05.09.2024

Der Fussabtreter

Alex fährt nach Hause. Es ist Donnerstag. Einmal mehr fühlt er sich wie ein Versager.

Ich bin doch erfolgreich, sagt er zu sich, als er in die Hauptstrasse abbiegt. Im Unternehmen bin ich einer der jüngsten Teamleiter, die Zahlen stimmen, das Management mag mich ebenso wie mein Team. Zudem kriege ich immer, als einer von wenigen, den vollen Bonus ausbezahlt. Einzig sein Kloss im Magen will nicht so richtig zu der Erfolgsgeschichte passen.

Vor wenigen Stunden kam Barbara, eine seiner Mitarbeiterinnen, zu ihm ins Büro. Sie hatte Einwände zu einem neuen Projekt, das sie ungern übernehmen wollte. Alex lächelte gutmütig, obwohl er wusste, dass das Projekt dringend und sie die beste Wahl dafür war. „Natürlich, Barbara,“ sagte er, „wenn du dich damit unwohl fühlst, werde ich jemand anderen fragen.“ Barbara war erleichtert und verliess das Büro.

Nicht viel anders war die Situation am Dienstag. Markus erschien häufig zu spät zur Arbeit. Darauf angesprochen erklärte er, dass er morgens grosse Schwierigkeiten hatte, rechtzeitig aufzustehen, und bat Alex, die Arbeitszeiten zu ändern. Alex fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er wusste, dass es nicht fair gegenüber den anderen Mitarbeitern war, die pünktlich kamen, und dass es auch die Effizienz des Teams beeinträchtigen würde. Doch anstatt die Konfrontation zu suchen, sagte er: „Ich verstehe, Markus. Ich werde sehen, was ich tun kann.“

Tief im Inneren wusste Alex, dass dies die falsche Entscheidung war. Aber er konnte einfach nicht nein sagen. Er wollte den Frieden bewahren und niemanden enttäuschen. Kein Konflikt, kein Problem. Das war seine Devise. Mit der Zeit spürte er die Auswirkungen seines Verhaltens immer mehr. Er wurde zum Fussabtreter. Seine Arbeitsbelastung nahm ebenso zu wie sein Frust, da er immer weniger seine Ziele erreichte und Projekte ins Stocken gerieten. Am meisten enttäuschte ihn, dass er von seinen Mitarbeitern nicht den Respekt erhielt, den er sich erhoffte. Im Gegenteil. Er wurde oft ausgenutzt und als schwach wahrgenommen.

Sind Konflikte per se negativ oder eine Möglichkeit für Wachstum? Die Kunst besteht darin, eine gesunde Konfliktkultur zu schaffen, in der es klare Grenzen gibt und ein Nein ebenso wie ein Ja seinen Platz hat. Klare und direkte Kommunikation ist kein Zeichen von Unhöflichkeit. Im Gegenteil, sie schafft Orientierung und gibt Sicherheit.

Kein Vorgesetzter muss seine Freundlichkeit und Empathie verlieren, um stark zu sein. Ebenso muss ein fairer Chef nicht zum Fussabtreter werden. Ein gutes Miteinander im Team entsteht dann, wenn alle Seiten gehört und respektiert werden – einschliesslich seiner eigenen.

Ein fröhlicher Gruss, Ralph Hubacher

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